von José Sanchis Sinisterra
Regie Jordi Vilardaga
Rachel Matter als Carmela
Antonio da Silva als Paulino
Bühne und Requisite: Stefan Schwarzbach
Kostüme: Maria Martinez Peña
Musikalische Einrichtung: Enrique Marín
Choreographie Tänze: Ursula Lips
Licht und Fotos: Li Sanli
Einrichtung Licht: Bruno Bissegger, Theaterwerkstatt Stiftung Märtplatz
Dramaturgie: Marie-Louise Michel
Premiere 9. März 2005, Theater Kanton Zürich, Winterthur
Derniere 26. November 2017, Zimmer-Theater Ariane, Winterthur
Aufführungsrechte Henschel Schauspiel, Theaterverlag, Berlin
Die Handlung hat 1938 in Belchite nicht stattgefunden.
Dauer 90 Minuten, ohne Pause
Carmela und Paulino tingeln durch das Spanien der 30er Jahre. Das Schauspielerpaar zeigt ein Nummernprogramm mit Liedern, Tänzen, Zaubereien. Tingeltangel eben. Ein harmloses Spiel zur Unterhaltung des Publikums. Eines Tages geraten sie in die Reihen der Faschisten und werden aufgefordert, die Truppe zu unterhalten. Doch an der Vorstellung will sich nicht die übliche Leichtigkeit einstellen. Die Faschisten haben Gefangene, die am andern Morgen hingerichtet werden sollen, zum Anlass mitgenommen.
Ein phantastisches hochtheatralisches Spiel zwischen Leben und Tod, Heldenmut und Feigheit, auf der schmalen Scheide zwischen Berufsethos und Prostitution.
Und… bist du böse auf mich?
Sieh mal, Paulino, jeder ist, wie er ist. Und du, nimm es mir nicht übel, du bist immer ein Scheisser gewesen.
Carmela, um Gottes willen, ich…
Ein Scheisser, Paulino. Man muss die Dinge beim Namen nennen: auf der Bühne ein Engel, im Bett ein Teufel… aber in allem übrigen ein Scheisser.
Aus dem Stück
Diese Inszenierung von «¡Ay, Carmela!» ist in der Spielzeit 2004/05 im Theater Kanton Zürich entstanden. Seit der Premiere am 9. März 2005 in der Sidi, Winterthur, begeisterte das Stück in gegen 50 Vorstellungen über 4'000 Zuschauerinnen und Zuschauer.
Zum historischen Hintergrund
Im Juli 1936 begann ein konservativer Militäraufstand gegen die kurz zuvor gewählte Volksfront-regierung Spaniens. Der Aufstand war ein Militärputsch, wurde aber auch von zivilen Gruppen und der faschistischen Bewegung Falange getragen. Die Aufständischen stützten sich auf die spanischen Kolonialtruppen in Nordafrika. Anführer des Militärputsches war Francisco Franco Bahamonde, seit 1933 einer der Befehlshaber der spanischen Armee.
Das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien unterstützten den Aufstand militärisch. Franco flog seine Truppen mit deutschen Flugzeugen von Afrika nach Spanien ein. Für die Nationalsozialisten war der Spanische Bürgerkrieg eine willkommene Gelegenheit, ihre neuen Waffen zu erproben. 1937 bombardierte die deutsche Legion Condor die Stadt Guernica und machte sie dem Erdboden gleich.
Eine Elegie
Sinisterra nennt sein Stück eine Elegie über den spanischen Bürgerkrieg, ein Klagelied: eine Erinnerung an die Toten des Kriegs.
Der zweite Tod der Toten ist das Vergessen der Lebenden. Das Stück zielt genau darauf ab: an das Gedächtnis des Publikums zu appellieren, an das historische Gedächtnis und an das subjektive Gedächtnis. In gewisser Hinsicht ist Carmela die Trägerin dieser Art Zerbrechlichkeit der Toten, die sich langsam auslöschen, sich in Luft auflösen, wenn man sich nicht an sie erinnert.
José Sanchis Sinisterra 1991
Das Theater, das sich immer an seine Zeitgenossen zu richten vornimmt, wendet sich häufig der Vergangenheit zu, um die Gegenwart zu bereichern, um ihr Wurzeln, Sinn, Substanz zu geben. Diese Stücke aus der Retrospektive nennt man für gewöhnlich «historische Stücke», aber mir erscheint diese Bezeichnung, offen gestanden, ein wenig feierlich und kartoniert. Anstatt den prätentiösen Begriff des «historischen Theaters» zu verwenden, spreche ich lieber vom «Theater des Gedächtnisses».
José Sanchis Sinisterra 2003
Der Autor José Sanchis Sinisterra
José Sanchis Sinisterra wurde 1940 in Valencia geboren. Spanien war durch den Bürgerkrieg verstört und im Würgegriff von Francos Diktatur. Katalonien kämpfte um die Erhaltung seiner Kultur und seiner Sprache. Als 17jähriger fand José Sanchis Sinisterra zum Theater, das er als einen Ort der Freiheit erfuhr.
Zwischen 1957 und 1966 leitete er verschiedene Studententheatergruppen. 1977 gründete er das Teatro Fronterizo in Barcelona und entwickelte es zu seinem Theaterlabor, in dem er die Grenzen zwischen Erzählen und Theater auslotet.
«¡Ay, Carmela!» wurde im November 1987 in Zaragoza uraufgeführt.
Jenseitige Noblesse
Pressespiegel zu «¡Ay, Carmela!»
Mit «¡Ay, Carmela!» hat Regisseur Jordi Vilardaga seine Schauspieler herausgefordert. Ein Zweipersonenstück von 90 Minuten Dauer, kaum Requisiten, eine karge Bühne, die alle Aufmerksamkeit auf die beiden Protagonisten lenkt. Rachel Matter überzeugt in ihrer Rolle mit der facettenreichen Darstellung der Carmela. Mal die Revolutionärin, die sich um jeden Preis nicht selber verleugnen will, dann die stolze Künstlerin und schliesslich die verständnisvolle Ehefrau, die ihren Mann im Bett und auf der Bühne Klasse, ansonsten aber einen «Scheisser» findet.
Da Silva als liebenswerter, beinahe trotteliger Künstler konnte mit seiner Mimik aus dem Vollen schöpfen. Wenn er von Carmela erfahren möchte, wie es denn «dort» aussehe, wo sie jetzt ist, dann ist er der kleine, schelmische Bub. Wenn seine Frau wieder ins Reich der Toten zurückkehrt, verzweifelt er fast, greift zur Flasche und wird zum abgestumpften, zum Leben verdammten Menschen.
Roman Spörri, Der Zürcher Oberländer, 11. März 2005
In Jordi Vilardagas Inszenierung geraten die Szenen, in denen Carmela aus dem Totenreich zu Paulino zurückkehrt, zum Höhepunkt der Aufführung, vor allem dank Rachel Matter. Wie eine Diva schwebt sie zu Beginn herein, doch ihre Aura ist irritierend, fern jeden Glamours: Ihre Noblesse entspringt der Gleichgültigkeit; ihr Tonfall, nüchtern und abgeklärt, meidet jede Schwingung von Trauer und ist deshalb die Trauer selbst; und wenn sie Wärme ausstrahlt, so ist es die Restwärme einer Toten, die unaufhaltsam in eine Zone entschwindet, wo Temperaturen nicht mehr mess- und fühlbar sind. Mit ihr tut der Zuschauer einen zweiten Gang durch den Nebel, jenen, der Leben und Tod voneinander scheidet.
Tobias Hoffmann, Neue Zürcher Zeitung, 11. März 2005
Die Leere ist Bühnenbild. Zum Abschied kommt der Bühnenraum in der Sidi zu einem grossen Auftritt. Stefan Schwarzbach hat nur drei Stühle auf die Holzbühne gestellt. Den Ort der Erzählung bestimmt das hervorragend eingesetzte Licht. Die Kargheit kommt dem Stück von José Sinisterra entgegen. Jordi Vilardaga setzt in «¡Ay, Carmela!» voll auf Rachel Matter als Carmela und Antonio da Silva als Paulino. Zu Recht.
Da Silva ist sofort ganz Figur: sowohl in qualvollen Momenten als auch in der Komödie, der köstlichen Lichtprobe beispielsweise. Der arme Tölpel leidet in der Einsamkeit und weiss nicht recht, was er mit der Geliebten anfangen soll.
Regisseur Vilardaga und den beiden Akteuren gelingt Grosses: Die Grenzen zwischen Mut und Übermut, Zivilcourage und Leichtsinn verschwimmen. Die Frage, ob es sich lohnt, in der Kneipe die Heldin zu spielen, bleibt offen.
Felix Reich, Der Landbote, 11. März 2005
Der Theaterleiter und Regisseur Jordi Vilardaga ist selber Spanier, der Stoff aus dem Spanischen Bürgerkrieg liegt ihm nahe. Er beweist viel Fingerspitzengefühl und lockert mit gezieltem Humor die ernste, ja traurige Thematik auf.
Rico Bandle, Blick, 11. März 2005